P.Sidler: Schwarzröcke, Jakobiner, Patrioten

Cover
Titel
Schwarzröcke, Jakobiner, Patrioten. Revolution, Kontinuität und Widerstand im konfessionell gemischten Toggenburg, 1795–1803


Autor(en)
Sidler, Pascal
Reihe
St. Galler Kultur und Geschichte 38
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Fabian Brändle, Zürich

Im Frühling 1795 erstürmten zornige Toggenburgerinnen und Toggenburger das Lichtensteiger Kornhaus. Sie entwendeten das darin gelagerte Getreide und verkauften es zu einem Preis, der ihnen als gerecht erschien. Solche Teuerungsproteste kennen wir aus England (food riots) und Frankreich. Sie verweisen auf ein darbendes Volk, auf Hunger und Not. Tatsächlich führten die Kriegshandlungen in Europa und der gewinnbringende Export von Lebensmitteln zu einer Knappheit, die namentlich die ohnehin nicht auf Rosen gebetteten Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter im Toggenburg empfindlich traf. Diese Schicht war es auch, die vermehrt an eine Revolution dachte, wie sie sechs Jahre vorher in Frankreich ausgebrochen war. In den Wirtshäusern besprach man die aktuelle Lage, Kolporteure und Hausierer brachten Neuigkeiten auch in den entlegensten Hof. Die Lesefähigkeit war gestiegen, und wer nicht lesen konnte, fand bestimmt einen Vorleser. Abgedankte und desertiere Soldaten berichteten aus dem Ausland. Gerüchte kursierten. So genannte «Wühler» schürten Ängste und hetzten gegen die katholische Herrschaft.

Die Reformierten waren seit Jahrhunderten unzufrieden mit dem Landesherrn, dem Fürstabt von St. Gallen, während die Katholiken in Beda Angehrn einen weisen und frommen Oberherrn erblickten. Respektvoll nannten sie ihn den «Gütigen». Beda hatte sich bei der letzten Hungerkatastrophe von 1770/71 bewährt und seine «Landeskinder» versorgt, so gut es ging. Der in der Verfassung garantierte Grundsatz der Parität sorgte für einen gewissen Ausgleich. Einmal mehr aber war das Toggenburg nun gespalten, in revolutionär Gesinnte und solche, die an der alten Ordnung festhalten wollten. Gekämpft wurde mit harten Bandagen, mit Verleumdungen und gar mit physischer Gewalt, die sich freilich in Grenzen hielt. Man sang freiheitliche Lieder und errichtete Freiheitsbäume wie jenen von Ulisbach, der auf einer Abbildung zu sehen ist.

Der Teuerungsprotest von Lichtensteig bildet gleichsam die Ouvertüre zu Pascal Sidlers ausgezeichneter, flüssig geschriebener Doktorarbeit zu einer denkbar wichtigen Umbruchszeit: zu den Jahren rund um die Helvetische Revolution 1795–1803. Das Buch füllt eine Forschungslücke und bildet einen wichtigen Baustein zur schweizerischen Revolutionsgeschichte von 1798.

Sidler erinnert daran, dass Strukturen oder Ideen Revolutionen zwar begünstigen. Letztendlich sind es aber Menschen, die auf die Strasse gehen, sich treffen, sich Mut machen, Anführer bestimmen – kurz: die handeln und somit Geschichte machen.

Männer wie der katholische Advokat Gallus Schlumpf aus Wattwil, der Schulmeister Edelmann aus Degersheim oder der Leutnant Andreas Looser aus Alt St. Johann organisierten die Unzufriedenen, verfassten Briefe und Flugschriften. Sie trugen weiter zum Gärungsprozess bei, wie er in der «Alten Landschaft» rund um Gossau und im zürcherischen Stäfa beinahe zeitgleich eingesetzt hatte.

Akribisch rekonstruiert der Autor die Ereignisse. Er hat, kundig betreut von Professor Rolf Graber von der Universität Zürich, Berge von Akten in verschiedenen Archiven ausgewertet, kann sich aber auch auf eine ungewöhnliche Dichte von Selbstzeugnissen aus jener Zeit stützen. Solche «Ego-Dokumente» belegen nicht zuletzt die Affinität der Toggenburger zum geschriebenen Wort. An erster Stelle zu nennen ist natürlich Ulrich Bräker, dessen vorbildlich edierte Tagebücher einen Einblick in die Lebenswelt und in die Erfahrungen der Unterschicht geben. Bräker war zwar sicherlich mit seiner Bildung ein Sonderfall, doch er berichtet über Sozialmilieus, die typisch waren. Zu nennen gilt es aber auch ein detailreiches Tagebuch von 1799, verfasst vom «Brunnödliger» Bauern Josef Bühler, weiter die Autobiographie des wohlhabenden Mosnanger Amtmanns, Grossbauern und Künstlers Fridolin Anton Grob, die Tagebücher des St. Peterzeller Beamten und «Stehaufmännchens» Peter Alois Falk, die Aufzeichnungen des Obertoggenburger Bauern Niklaus Feurer und andere mehr. Fündig wurde der Suchende nicht zuletzt im Archiv des Toggenburger Museums Lichtensteig, wo ihn Experten auch berieten und ihm weiterhalfen. Dass einige «Ego-Dokumente» älteren Forschenden noch bekannt waren, nun aber verloren sind, verweist auf die Wichtigkeit einer sachgemässen Aufbewahrung in einem Archiv.

Sidler geht in seinem Buch nicht nur auf die Entstehung der Revolution ein, sondern zeigt anschliessend auch auf, wie sich das Leben und die politischen Verhältnisse in der Helvetischen Republik gestalteten, auf den katholischen Widerstand, auf Kontinuitäten bei den Eliten, die wie so oft auch im Toggenburg genau wussten, wie sie sich zu verhalten hatten, um oben zu bleiben.

Die Toggenburger Revolution hat ihre Kinder nicht gefressen wie in Frankreich, sie hat sogar Enkel hervorgebracht, die dann in den 1830er Jahren für das erste verfasste moderne direktdemokratische Instrument der Weltgeschichte kämpften. Erfolgreich.

Zitierweise:
Fabian Brändle: Rezension zu: Pascal Sidler, Schwarzröcke, Jakobiner, Patrioten. Revolution, Kontinuität und Widerstand im konfessionell gemischten Toggenburg, 1798–1803 (=St. Galler Kultur und Geschichte 38), Zürich, Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 554-556.

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